Wenn ich für eine Mediation angefragt werde, erläutere ich meine Haltung und mein Vorgehen. Dabei fällt stets der kurze Satz “Klarheit vor Schönheit” oder in der längeren Form: “Klarheit und Wahrheit vor Schönheit und Harmonie”. Dieses Grundprinzip der Klärungshilfe habe ich mir nicht selbst ausgedacht, sondern vermutlich ursprünglich von Christoph Thomann übernommen. Was bedeutet dieser Satz für mich und warum wiederhole ich ihn so gerne?
Dafür gehe ich einen Schritt zurück.
Menschen mögen Konflikte in der Regel nicht sonderlich. Wobei Konflikte selbst für einige sogar gut aushaltbar sind — das sind dann die kalten Konflikte, unter denen ich zumindest nicht akut leide. Ich kann also im Konflikt mit meiner Tante in Südtirol stehen — solange wir uns nicht sehen und etwas klären müssen, kann ich das aushalten. Anders ist ein Konflikt mit meinem Nachbarn, den ich ständig höre (und noch mehr, seit ich weiß, dass er offensichtlich keine Rücksicht nehmen will!), kaum kalt — und somit belastend und schlecht auszuhalten.
Fairerweise kann sich das für die andere Seite anders darstellen: Meine Tante kann sehr darunter leiden, dass ich keinen Kontakt zu ihr suche und mein Nachbar weiß vielleicht gar nichts davon, wie sehr ich mich über ihn ärgere.
Der Fluch der Höflichkeit
Als eine unserer zivilisatorischen Errungenschaften gelten bestimmte Umgangsregeln. Ich grüße, wenn ich ins ärztliche Wartezimmer eintrete, ich halte jemandem die Tür hinter mir auf und ich schreie meinen Nachbarn nicht im Treppenhaus an.
Stattdessen setze ich vielleicht einen Brief auf, den ich in den Hausflur hänge:
“Liebe Nachbarn, manchmal ist es abends ein wenig rumpelig. Es wäre doch wundervoll, wenn wir alle aufeinander acht gäben. Einen erfüllenden Tag wünsche ich Ihnen!”
Ich unterzeichne meinen Brief nicht, weil Rücksichtnahme eigentlich ja eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Und sicher freut sich doch jede*r darüber!
Das Problem: Alle fühlen sich angesprochen — und gleichzeitig keiner.
Meine Nachbarin Frau Pausch huscht in den folgenden Tagen noch leiser an mir vorbei als zuvor. Das Ehepaar Ümet flüstert nur noch. Herr Storch ermahnt mich (!), als ich im Treppenhaus mit der Postbotin quatsche. Nur Herr Meier rumpelt weiterhin in seiner Wohnung. Wie sich irgendwann herausstellt, hat er seit Wochen ein Gipsbein, verlässt seine Wohnung nicht (liest daher auch keine Briefe im Hausflur) und wird von einem Freund versorgt.
Bisher könnte man also sagen: Ziel verfehlt und dafür in eigene Tor getroffen.
Sicher ist jede*r Leser*in klar, dass es hierbei wohl erfolgsversprechender gewesen wäre, das direkte Gespräch zu suchen. Ich hätte bei Herrn Meier klingeln können, hätte seinen Gips gesehen und wenn mich das nicht umgestimmt hätte, hätte ich ihm sagen können:
“Herr Meier, haben Sie einen Moment Zeit für mich? … Sie rumpeln. Offenbar haben wir unterschiedliche Schlaf-Wach-Zyklen, doch ich wache jede Nacht mehrfach auf und höre Sie durch die Wohnung rumpeln (1). Damit treiben Sie mich gerade in den Wahnsinn (2). Ich werde dann richtig sauer (3). Ich kann nämlich ganz schlecht wieder einschlafen, wenn ich so aufgeschreckt bin und habe dann Angst (4), dass ich den nächsten Tag nicht überstehe…”
Wir haben hier (für das Beispiel idealtypisch zusammengefasst, in der freien Wildbahn seltener anzutreffen):
Eine Aussage über eine Beobachtung (1),
eine Schilderung meines Befindens und eine Anschuldigung (2),
mein abwehrendes Gefühl (3)
und sogar meine innere Not (4).
Wenn Du Dich in der Beziehung sicher fühlst, kannst Du alle Schritte mit Deinem Gegenüber teilen. Ansonsten empfehle ich eher die Schritte 1-3 — eventuell ergänzt um einem Wunsch (5).
Nun kann Herr Meier reagieren. Vielleicht beschimpft er mich und knallt die Tür ins Schloss. Oder er lädt mich ein zum gemeinsamen Brainstorming für eine Lösung. Oder er erklärt mir, dass er nicht wusste, wie hellhörig die Wohnung ist und dass er ab jetzt darauf achten wolle…
Unabhängig vom Ergebnis unseres Austausches herrscht nun eine größere Klarheit. Herr Meier weiß, dass er adressiert ist. Und dadurch muss er sich dazu verhalten. Und dazu wiederum kann ich mich verhalten.
Für Klarheit einzustehen und das Gespräch zu suchen, erfordert Mut. Und es ist mit Risiko verbunden: Es wird sich vermutlich etwas verändern — und wir wissen vorher nicht, was das Ergebnis sein wird.
Daher ist es sinnvoll zu prüfen, in welchen Situationen es sich lohnt dieses Risiko einzugehen. Lohnt sich der Aufwand? Oder — um bei dem Beispiel des Nachbarn zu bleiben — ziehe ich eh in einem Monat um?
Persönlich lebe ich meist nach dem Prinzip, dass ich mich nicht mehrfach über dasselbe ärgern möchte. Daher suche ich möglichst bald ein Gespräch oder versuche anderweitig eine Veränderung der Situation herbeizuführen. Doch andere Menschen sind vielleicht mit mehr Geduld gesegnet…
Was hießt also Klarheit?
Klarheit heißt, eine Situation zwischen Menschen so klar und ungeschönt wie möglich zu betrachten und zu akzeptieren. So ist es also.
Und um anschließend einen Schritt weiterzugehen: Was machen wir nun damit? Wie kann eine Lösung aussehen?
Lösungen können vielgestaltig aussehen: Im Berufsleben kann eine Lösung in Absprachen für eine bessere Zusammenarbeit bestehen oder — bei anderweitig nicht auflösbaren Differenzen — in einer Trennung.
Es ist dann also nicht unbedingt schöner, jedoch echter, ehrlicher, klarer. Ich weiß, wo ich stehe und wo mein Gegenüber sich positioniert. Ich sehe, was mit uns noch oder nicht mehr möglich ist.
Klarheit ist die Feindin von ungenannten Erwartungen — und dem Frust, der aus ihnen mitunter entspringt.
Und nun zu Dir …
- Welcher Klarheit gehst Du aus dem Weg um die Harmonie nicht zu gefährden?
- Welche Beziehung könnte durch ein wahres Gespräch profitieren?
- Wo wünscht Du Dir einmal wirklich die Wahrheit zu erfahren — und wie könntest Du darum bitten?