Sei bloß (nicht) besonders!

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In meiner Kindheit habe ich mitunter den Satz gehört “Das macht man nicht”. Später traf ich auf “Das haben wir noch nie so gemacht”. Häufig höre ich auch “Wer das macht, muss ein Idiot / Vollpfosten / Monster … sein”.

Gruppenkohärenz oder: wir sind wir, weil wir nicht wie die anderen sind

Menschliche Gruppen brauchen und geben sich Normen um zu funktionieren. Manche sind irgendwo aufgeschrieben und ziehen bei Regelverstößen klar definierte Konsequenzen nach sich (diese nennen wir Gesetze), andere sind oft ungeschrieben, dadurch für Neulinge mitunter schwerer zu dechiffrieren. Das sind die kulturellen Normen, “ungeschriebenen Gesetze”, implizite Regeln. Ihnen begegnen wir in Teams, in denen ich mich durch die falsche Kleiderwahl oder Grußformel (Anzug statt T-Shirt, “Sie” statt “Du”) als “anders” markieren kann, aber natürlich auch in größeren oder älteren Organisationen wie Familie, soziale Schicht oder Nation (“als guter Vater / Arbeiter / Deutscher macht man … [nicht]”).

Selbst wenn diese Sätze eine Leistungserwartung implizieren, so hat diese Grenzen: Du sollst gut, kompetent und stark sein, aber bitte nicht auffällig, nicht übermäßig. Wenn Du die Beste in der Schule bist, werden Dir andere Deine Fehler schon mitteilen, wenn Du cleverer als Deine Eltern bist, wird Dir dies — in den meisten Fällen — nicht nur Wertschätzung entgegenbringen. In Australien und Neuseeland gibt es dafür den schönen Begriff Tall poppy syndrome: Wir werden Dich schon lehren, Dich nicht zu groß und stolz zu zeigen!

Regelverstöße sind nie ungefährlich, sie beinhalten stets die Gefahr, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Einige Verstöße wiegen natürlich schwerer als andere und einigen Mitgliedern werden sie auch stärker angelastet als anderen. Es geht also um die (Un-)Bedingtheit von Zugehörigkeit:
Wie sicher bist Du in der Gruppe verankert? Wirst Du nur geduldet oder als vollwertiges Mitglied anerkannt?

Eine Leidensgeschichte können Menschen erzählen, die innerhalb einer Gruppe als Minderheit markiert sind (z.B. als Frau in einem männlich dominierten Team). Schnell kann es passieren, dass ein Regelverstoß für sie größere Konsequenzen hat als für Mehrheitsmitglieder und sie abgestraft oder gar ausgeschlossen werden.

Der notwendige Regelverstoß

Wenn alle an “Das macht man nicht” glauben, traut sich niemand, etwas anderes zu versuchen. Dann bleibt alles statisch, unbeweglich. Und wird eventuell irgendwann obsolet.
Daher sind Regelverstöße wichtig, damit eine Gruppe oder Organisation sich weiterentwickelt. Eine*r muss den ersten Schritt wagen. Eine*r muss das probieren, was alle anderen für verrückt halten.

Eine*r muss gegen die alten Regeln verstoßen.

Heute werden wir im Neoliberalismus aufgefordert, uns abzuheben, unser ganzes Leben als Unternehmen zu betrachten, ja “Unternehmerin unseres Selbst” zu werden.
Wir tragen also unsere Stärken zu Markte — am Besten mit unserer ganzen Persönlichkeit. Wir zeigen, wie besonders wir sind. Wie einzigartig! Wie authentisch!
Und wie müde … denn auch dies ist Performance.

Wir sind also stets mit zwei konträren Anrufungen konfrontiert:

  • Mache Dich gleich!
  • Mache Dich anders!

Ein Spannungsfeld

In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns — oft unbewusst:
Es zeigt sich in den Selbstzweifeln, wenn wir mit etwas Besonderem glänzen können — uns jedoch gleichzeitig schämen, so viel Raum einzunehmen.
Es zeigt sich in den tollen Ideen, die wir nicht umsetzen, weil wir Angst haben, dann kritisiert zu werden.
Es zeigt sich in der Erschöpfung, wenn wir schon wieder zu viel gearbeitet haben um Anerkennung zu bekommen — und eigentlich doch lieber mal liegen geblieben wären.
Es zeigt sich in einem ständigen Eigentlich-Ja-Aber, einer blockierten Energie, einer Sorge, einerseits nicht genug und andererseits zu viel zu sein.
Seht Ihr mich? Und falls ja, gefalle ich Euch? Oder werde ich Euch gefährlich?

Wir können (und sollten) nicht jede*m gefallen. Das ist eine zu große Aufgabe. Doch wir können uns selbst gefallen, Integrität mit uns selbst erleben. Notwendig dafür ist Mut: zur eigenen Wahrhaftigkeit und vielleicht einem ersten Veränderungsschritt.

Und nun zu Dir …

  • Wo machst Du Dich kleiner als Du bist?
  • Wo machst Du Dich größer als Du willst?
  • Welcher Glaube verbirgt sich dahinter?
  • Vervollständige die Sätze:
    • “Man muss … sein, um geliebt zu werden.”
    • “Ich darf nicht …, sonst … .”
    • “Wenn ich dürfte, würde ich … .”
  • Woher kennst Du diese Sätze? Brauchst Du sie noch?