Zur Gleichzeitigkeit von Gefühlen in Krisen

Hängebrücke

Wut, Verzweiflung. Angst und Trauer. Entspannung, Anspannung.

Wir gehen unterschiedlich mit dieser Krise um, mit dieser neuen Situation, in der wir Menschen uns einerseits sehr nah sind (Corona interessiert sich nicht für Status, Nationalität oder Geschlecht), andererseits sehr fern (die zur Verfügung stehenden Mittel zur Vorbeugung und Behandlung sind abhängig von Status, Nationalität und indirekt auch Geschlecht).

Wir blicken auf eine Situation, die für viele von uns neu ist. Wuhan wirkte noch weit weg, Italien war schon näher und nun mehren sich die Krankheits- und Todesfälle in den Groß- und Kleinstädten Deutschlands. Vielleicht ist die Empathie und das Entsetzen auch ein Zeichen unserer Mobilität: wer schon mal in einer Gegend war, die nun besonders betroffen ist, fühlt anders mit den Menschen vor Ort.

Die Situation zeigt unsere Verletzlichkeit, unsere Ähnlichkeit als Menschen. Wir sehen Momente von Solidarität, von herzergreifender Unterstützung. Und wir sehen, wie die Angst die nationalstaatlichen Grenzen schärft, ein “Our People First”, obwohl wir doch alle unter der Krise leiden werden — so vernetzt, wie wir sind.

Gleichzeitig sind wir auch als Individuen betroffen: Trauer funktioniert individuell, selbst wenn sie durch eine kollektive Tragödie verursacht wurde. Mit unseren Emotionen müssen wir alleine klarkommen, sie durcharbeiten oder erstmal beiseite schieben. Jede Personen hat auch da ihre eigene Zeitlichkeit.
Zugleich sind wir kollektiv betroffen — jedoch nicht alle zum selben Moment mit vergleichbarer Intensität. Wir werden über die nächsten Monate viel Ungleichzeitigkeit erleben: während der Kollege trauert, lebt die Kollegin in der Furcht vor dem nächsten Anruf; der Freund schottet sich emotional ab und die Freundin fühlt sich alleingelassen mit ihrer Angst. Andere genießen die Momente der Ruhe und nutzen die freie Zeit für Bildung und Entspannung. Auch hier sind die Menschen nicht gleich – weder in ihren faktischen noch imaginierten Möglichkeiten.

Wir werden lernen müssen, mit dieser Varianz umzugehen und zu begreifen: nicht jeder möchte über seine Gefühle sprechen, nicht jeder kann sie für sich behalten. Wir können virtuelle soziale Räume schaffen, in denen Begegnungen möglich sind: das kleine, informelle Küchenzeilengespräch in der Firma, der aufmunternde Blick des Kollegen, das leise „ich bin da, wenn Du mich brauchst“, das früher durch eine leichte Berührung am Arm übertragen wurde und nun durch eine kleine Nachricht im Chat übermittelt wird.

Eventuell lernen wir in dieser Zeit eine andere Form des Verständnisses, der Akzeptanz füreinander. Wir können diese Situation nutzen um unseren Blick zu weiten, die unterschiedlichen Perspektiven aufzunehmen und die Gleichzeitigkeit zuzulassen.
Das ist nicht einfach — es wird jedoch wichtiger denn je.

Der erste Schritt dabei muss die Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen sein: Was genau fühle ich? Welchen Namen gebe ich dem Grummeln im Bauch? Angst? Scham? Was ist da noch?
Wenn ich es benenne, verliert es vielleicht schon ein wenig seiner paralysierenden Macht über mich.
Wenn ich es zur Verfügung stelle, schaffe ich eine Möglichkeit zur Verbindung mit anderen. 
Wenn ich frage, was mein Gegenüber fühlt, kommen wir vielleicht in den Austausch. Und in die Akzeptanz, wenn ich zuhöre und registriere, dass er emotional ganz woanders ist.

Das erfordert Mut. Doch es lohnt sich.

The price is high. The reward is great.
(Maya Angelou)