Zwischen den Polen

Dichotomien

Häufig denken wir — zumindest in der westlichen Welt — in Dualitäten und spätestens, wenn es um Politik geht, auch in Polaritäten. Zwei Pole, denen ich häufig im Coaching und in Mediationen begegne und die ohneeinander kaum denkbar sind, heißen „Emotionalität“ und „Rationalität“. Historisch sind sie mit zwei Geschlechtern verknüpft (inklusive positiven und negativen Konnotationen) und wir können — auf anderen historischen Pfaden — auch von emotional-orientierten und rational-orientierten Zeiten sprechen.

Meist neigen auch wir dazu, in diesen Dichotomien zu denken. Wir konzentrieren uns auf das eine Merkmal, würdigen es, stellen es heraus und unterschlagen das andere — oder diskreditieren es sogar. Einem besonders „rationalen“ Geist sprechen wir somit vielleicht das Herz ab und eine äußerst „emotionalen“ Seele betrachten wir als weniger vernunftbegabt.

Eine Seite wird überschätzt

Sicher haben wir eine Tendenz in die eine oder andere Richtung: vielleicht wurde in unserem Elternhaus bereits viel Wert auf logische Argumentation gelegt und / oder das Zeigen von Emotionen belächelt, was zu einer unglücklichen erlernten Kombination führte (Gefühle zeigen => Scham empfinden => Gefühle besser unterdrücken). Vielleicht wurde umgekehrt Emotionalität sehr gefördert, da sie mit Kunst und Lebenskraft assoziiert wurde — während hingegen Rationalität mit Engstirnigkeit und Langeweile verbunden wurde.
In beiden Fällen haben wir eine Prägung mitbekommen, die es uns leichter macht, in die eine oder andere Richtung zu empfinden.

Wieso eigentlich das Eine oder das Andere?

Ich denke, dass wir es uns damit unnötig schwer machen. Zum einen ist ein Pol nie ohne seinen Gegensatz denkbar (wir brauchen das Außen um das Innen zu definieren). Und zum anderen gibt es eine Verbindungslinie zwischen diesen Polen. Wir sind nicht nur Ratio oder Emotion, sondern beides.
(Oder genauer gesagt: Wir sind keines von beidem, da wir Emotionen und Rationalität zur Verfügung haben, aber eben nicht als solche existieren: wir sind weder unsere Gefühle noch unsere Gedanken.)

Verbindungslinie zwischen den Polen

Der Raum dazwischen

Das Schöne ist: Wir haben Reaktions- und Handlungsspielraum.
Auch wenn es uns nicht immer leicht fällt: wir können kontextuell handeln. Und je sensibler wir für uns werden, desto mehr können wir beide Kompetenzen abrufen — und uns entscheiden, welcher wir nun, in diesem Moment, mehr Fokus geben.

Dadurch kann ich sogar in einer Diskussion mehrere Aspekte hervorheben, die unterschiedliche Muster bedienen. Ich kann die Emotionalität der Diskussionen (und des Diskussionsgegenstandes) begreifen. Und mich entscheiden, wie sehr ich mit meinen Emotionen darauf eingehen möchte.
Und ich kann die rationale Argumentation verstehen und mich daran beteiligten — und auch wieder prüfen, wie sehr diese Argumente mich auch emotional berühren. Und ich kann mich fragen: wie kann meine Position aussehen, in der ich mich sowohl emotional, als auch rational wiederfinde?

Verschiedene Positionen zwischen den Polen

Wenn wir uns also eine Linie zwischen den Polen denken können, sind wir beweglicher und können unsere Komplexität besser wahrnehmen und artikulieren.
Natürlich gibt es viele weitere Gegensatzpaare. Hier sind ein paar weitere Beispiele:

  • Beständigkeit — Innovation
  • Autonomie — Gemeinschaft
  • Wildheit — Zähmung
  • Veränderung — Dauer
  • Ordnung — Chaos
  • Stärke — Schwäche

Und nun zu Dir …

  • Welches Gegensatzpaar fällt Dir spontan ein?
  • Zu welchem Pol fühlst Du Dich sofort hingezogen, wo abgestoßen?
  • Wie könntest Du Deinen weniger ausgeprägten Pol etwas mehr integrieren?
  • Wo erlaubst Du Dir, von dem, was Dir vermeintlich nicht entspricht, etwas mehr zu erleben?
  • Was wäre, wenn Du Dich mal bewusst in der Mitte positionierst?